Page 48 - MOHR Stadtillu - Ausgabe 254
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 REPORT AUS DER UKRAINE
    IN DEN KARPATEN VERANSTALTET "GEN. UKRAINIAN" EIN FERIEN-CAMP FÜR KINDER UND JUGENDLICHE, DIE MÜTTER UND VÄTER DURCH DEN RUSSISCHEN ANGRIFFSKRIEG VERLOREN HABEN. ES IST EINE INTENSIVE THERAPEUTHISCHE INTERVENTION.
seine Augen von tiefer Trauer erzählen. Wie bei all den anderen Jungen und Mädchen der Feri- enmaßnahme, die in einem Erholungskomplex in den Karpaten stattfindet.
Am Morgen scheint die Sonne milde über die be- waldeten Bergrücken und eine große Wiese. Dort leuchtet ein gewaltiger Ballon, über dessen orangefarbener Kunststoffhaut sich ein Lächeln wie ein Halbmond zieht. Die jungen Teilnehme- rinnen und Teilnehmer versammeln sich zum Morgensport. Kein Stimmengewirr. Stille. Die Stille wird in so vielen Momenten des Tags eine traurige Begleiterin bleiben. Die Betreuerin im Sport-Outfit lässt aus einer Box Pop-Songs tönen. Die ersten Übungen führt sie vor, dann überneh- men andere Kinder. Iwanka, neun Jahre, tritt stolz vor. Lässt den Kopf kreisen und schließt dabei die Augen. Ihr Vater starb als Soldat an der Front. Der Schmerz der Mutter ist so groß, dass das Kind zu- hause kaum über den eigenen Verlust zu spre- chen wagt, berichtet später eine Betreuerin.
Als Kolya an der Reihe ist, macht er Liegestützen vor. Aber eigentlich bewundern ihn die anderen
Kolya verkauft seine Angst. Die Angst, nicht auf eine wichtige Warnung zu hören. Für drei, vier Bonbons und einen kleinen Schoko-Riegel wech- selt die „Angst“ den Besitzer. Auf einem kleinen Zettel, in krakeligen Buchstaben von einem Zwölfjährigen geschrieben. Doch vorher erzählt der Junge, was er auf das Stück Papier geschrie- ben hat. Davon, wie seine Mutter, als die Sirenen erklingen, in den Keller will. Der Vater aber ab- wiegelt. Kolya war in seinem Zimmer, als die Gra- nate einschlug. Seine Eltern überlebten die Ex- plosion im Wohnzimmer nicht. Kolya wird sein Leben lang Narben auf der Haut tragen, wie die an seinem linken Oberarm. Und andere Narben, die unerträglich schmerzen, aber niemand sieht.
Vielleicht hat der Krieg mittlerweile schon den ganzen Wohnblock zum Einsturz gebracht, in dem Kolya aufwuchs. Pokrowsk ist heute eine lee- re, zerstörte Stadt unter russischem Artillerie- Beschuss. Kamikaze-Drohnen jagen nach allem,
was sich noch auf der Straße und zwischen den Gebäuden bewegt. Pokrowsk hat als ein Lebens- raum aufgehört zu existieren. Kolya wohnt jetzt bei Freunden seiner Eltern in der Großstadt Dnipro. Auch dort gibt es regelmäßig russische Drohnenangriffe.
„Auf eine Warnung zu achten, kann alles ent- scheiden“, sagt Kolya, als er seinen Angst-Zettel übergibt. Ein Dutzend Kinder und Jugendliche sitzt auf in mit Styroporkügelchen gefüllten Kis- sen und Stühlen im Kreis. Alle haben sie ihre Ängste aufgeschrieben. Meist sind sie mit dem Krieg verbunden. Keiner tuschelt, wenn jemand seine „Angst“ vorstellt. Es herrscht Stille. Nur die Stimmen von denen, die erzählen, sind zu hören. Elvira, die es nicht zu Ruhe kommen lässt, dass vielleicht weitere geliebte Menschen getötet wer- den. Ihr Vater fiel an der Front. Ihr Mutter starb bei einem Einschlag, als sie für ihre Tochter einen Ge- burtstagskuchen kaufen wollte. Neben ihr sitzt
Juliana, die sich vor dem Tod selbst fürchtet. Es sind dunkelste Ängste, von denen die Mädchen und Jungen berichten. Der „Verkauf von Ängs- ten“ untereinander, das damit verbundene "Sich öffnen", Zuhören und die Anteilnahme sind Teil der therapeutischen Arbeit im Feriencamp der Organisation „Gen. Ukrainian“. Fast 50 Kinder und Jugendliche, die mindestens ein Elternteil durch Russlands Angriffskrieg verloren haben, nehmen daran teil. Das Feriencamp ist ein psy- chotherapeutischer Rückzugsort. Weitab von Drohnenangriffen, die viele der Kinder wieder er- leben werden, wenn sie in ihre Wohnorte zurück- kehren, die über die ganze Ukraine verteilt sind.
Kolya ist ein Junge, denen sich einige von den Jüngsten des Camps sicherlich gerne als großen Bruder wünschen. Steht er bei der Obstausgabe an, lässt er die Jüngsten vor. Kurzhaarschnitt, hochgeschossen, ein freundliches Gesicht, dass immer wieder ein Lächeln findet. Selbst wenn
Kolya mit einer Narbe am Arm. Die Verletzung entstand als Folge der Explosion,
die seine Eltern tötete.
 FÜR EIN LÄCHELN IN DER STILLE
  Beim Morgensport: Kein Stimmengewirr. Der Tag beginnt bei den Kindern mit Stille. Dann ist nur die Musik aus der Lautsprecher-Box zu hören.
Hund Olaf ist der Star bei den Kindern.
Geduldig nimmt er nicht enden-wollende Streicheleinheiten hin.
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- STADTILLU FÜR COBURG, LICHTENFELS & KRONACH
















































































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