Page 49 - MOHR Stadtillu - Ausgabe 254
P. 49
FOTOREPORTAGE VON TILL MAYER
REPORT
Kinder, weil er zuhören kann. Nicht, weil er schon die Muskeln eines Heranwachsenden hat. Nach dem Morgensport geht es ins nahe Schwimm- bad. Ein Junge ist aufgelöst. Kolya versucht, ihn zu beruhigen. Doch dafür bekommt er zuerst un- schöne Worte von dem Buben zu hören. Kolya lässt ihm seine Wut und Trauer. Am Schwimmbe- cken-Rand angekommen, holt der Krieg die Gruppe schnell wieder ein. Kriegsversehrte Sol- daten, denen der Krieg Gliedmaßen, ganze Bei- ne oder Arme weggerissen hat, nutzen den Pool für ihre Reha-Übungen. Rollstühle stehen unter Sonnenschirmen, und auf den Liegen haben die Soldaten ihre Krücken zurückgelassen.
Kolya blickt traurig, als er die Verwundungen der Soldaten sieht. Am benachbarten Becken mit dem Sprungturm geht es dann weiter mit der Angstüberwindung. Eine Elfjährige will ihren ers- ten Sprung vom Drei-Meter-Turm wagen. Sie blickt auf das blau schimmernde Wasser hinab und zählt mit ihrer Betreuerin rückwärts: drei- zwei-eins. Der Sprung bleibt aus. Die Betreuerin gibt ihr Zeit, keiner drängelt. Aber als sie dann springt, klatscht die ganze Gruppe Beifall. Es gibt aufmunternde Zurufe. Die Kinder haben es wie- der einmal geschafft, die Stille zu durchbrechen. Dann geht es zurück in die Zimmer für das Mit- tagessen und eine Pause. Kolya plaudert mit dem Jungen von vorhin und legt ihm seinen Arm um die Schulter, als sie über den Weg zum Haus laufen.
In der Unterkunft warten zwei Hunde auf die Kin- der. Olaf, eine französische Bulldogge, ist der ganz große Star. Der Hund gehört einer der sechs Psychologinnen, die zusammen mit fünf Tutorin- nen und Tutoren die Kinder und Jugendlichen betreuen. Der Vierbeiner ist eine geduldige See- le, die den Dauer-Streichelmodus klaglos über sich ergehen lässt. Von den Kindern gibt es Um- armungen gelegentlich im Minutentakt. Dann
ist da noch Labrador-Mischling Lola. Obwohl sie erst sieben Jahre alt ist, hat sie viele graue und weißen Haare rund um die Schnauze. „Sie ist selbst durch die Explosionen bei den russischen Angriffen traumatisiert“, sagt Psychologin Olena. So dreht Lola ein wenig aufgedreht mit einem ro- ten Gummi-Quietsche-Ball ihre Runden. Wenn sie aufgeregt ist, dann zittern ihre Muskeln an den Beinen. Manchmal kann es auch zu schwe- ren epileptischen Anfällen kommen.
Den Krieg trägt wohl jeder in der Unterkunft in sich. Olena kommt aus Kyjiw, der Hauptstadt. Russland verstärkt derzeit seine Drohnen- und Raketenangriffe auf zivile Ziele in der ganzen Uk- raine. Insbesondere auf die ukrainische Haupt- stadt schicken die russischen Angreifer regelmä- ßig Hunderte von Drohnen und Raketen. Oft hö- ren die Menschen die Explosionen der Luftab- wehr und Einschläge über Stunden hinweg. Auch Hunde wie Lola mit einem deutlich emp- findlicheren Gehör. Die Psychologin hat selbst eine zwölfjährige Tochter. „Es ist eine furchtbare Zeit. Meine Tochter hat gelernt, mit der Situation umzugehen. Sie kennt die Regeln. Heult die Sire- ne, gilt es einen sicheren Platz zu finden. Natür- lich machen ihr die Angriffe Angst. Nicht selten kommt sie nachts zu mir ins Bett gekrochen. Der Krieg ist schlecht für die mentale Gesundheit von so vielen von uns“, erklärt sie. Mehr Fachpersonal müsse ausgebildet werden, weitere Programme für Trainer von Psychologen und Ärzten aufgelegt werden. „Die ukrainische Gesellschaft muss ler- nen, mit Traumata umzugehen. Und wir machen Fortschritte“, erklärt sie.
Die Zahlen die Unicef dieses Jahr für die Ukraine bekannt gab, sind erschütternd: 75 % der Kinder und Jugendlichen zeigen Anzeichen eines Trau- mas. 38 Prozent der Erwachsenen erfüllen die Kriterien für eine psychischen Störung. Fünf Milli- onen Kinder in der Ukraine haben traumatische
Erfahrungen wie Flucht, Zerstörung, Luftangriffe bis zum Verlust geliebter Menschen erlebt. Ihr Zugang zu Bildung und Entwicklungsmöglich- keiten wird durch den russischen Angriffskrieg eingeschränkt. Nicht zuletzt die ununterbroche- nen russischen Luftangriffe auf das Gebiet der ganzen Ukraine sollen eines rauben: das Vertrau- en auf Sicherheit.
An all das erinnert die Vorsitzende und Gründe- rin von "Gen. Ukrainian", Oksana Lebedieva: "Der Folgen für die Psyche, die der Krieg fordert, wurde noch nie so umfassend erforscht wie aktu- ell. Die Erfahrung, die wir in diesem Krieg sam- meln, ist wertvoll für die ganze Welt. Aber sie kommt zu einem schrecklichen Preis". Hinter der Bezeichnung "Camp" stehe ein intensiver thera- peuthischer Prozess, eine "hoch strukturierte psy- chologische Intervention", erklärt Oksana Lebe- dieva. Langfristige Unterstützung sei fundamen- tal, fordert sie. Kolya werde auch im Anschluss weiter von „Gen. Ukrainian“ betreut.
Neben Psychologin Olena hängt ein Poster mit einer Ampel, die verschiedene Smileys zeigt. Im Grünen lächelt das Gesicht, aus dem roten Feld blickt es dagegen voller Furcht. „Wir erklären den Kindern und Jugendlichen, was sie tun müssen, wenn sie in die gelbe Phase kommen. Atem- übungen zum Beispiel, das Gespräch suchen. Versuchen, Ruhe zu finden.“ Wichtig sei für die Heranwachsenden auch zu erkennnen, die rote
Phase hat begonnen: „Jetzt brauche ich drin- gend Hilfe, und ich habe das Recht, danach zu fra- gen.“ Im Camp gibt es Mal-Theraphien, Ge- sprächstherapien, gemeinsame Spiele und Übungen. Und die Stille. Stille und Trauer gehö- ren zusammen. Beides wird nach den drei Wo- chen weiter tief in den Kindern und Jugendli- chen sein. Aber sie lernen, damit umzugehen. Es ist ein Anfang hier in den Karpaten, der in der Stil- le beginnt. Jedes dabei gewonnene Lächeln ist ein wertvoller Schritt.
Die Stille lastet auch auf dem Betreuer-Team. Manchmal fällt es den Betreuern schwer zu glau- ben, dass in dem Gebäude 50 junge Menschen untergebracht sind. „Umso schöner ist es, wenn es gelingt, dass die Kinder wieder Kinder sind, spielen und lachen. Das ist so wertvoll für mich“, sagt Olena.
Dann läuft Kolya vorbei. Er weiß, dass der Repor- ter aus Deutschland kommt. „Ich würde gerne einmal das BMW-Museum besuchen“, sagt der Junge. Der Zwölfjährige hat sich zuvor eigentlich als Audi-Fan geoutet. „Aber BMW haben meine Eltern mehr gemocht“, erklärt er nachdenklich. Zwei Sätze gibt er dem Reporter für deutsche Kin- der mit: „Seid glücklich, dass ihre eure Eltern habt. Sie sind das Wichtigste.“ Würden seine El- tern noch leben, sie wären sicher eines: stolz auf ihren Sohn.
Der Autor:
Den Krieg im Osten der Ukraine dokumentiert der (Foto-)Journalist Till Mayer (www.tillmayer.de) schon seit 2017. Seit dem Beginn der Full-Scale-Invasion im Februar 2022 berichtet er regelmäßig für unsere Redaktion über die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Für seine Fotos und Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Im ibidem-Verlag ist jüngst sein Reportagenband "Eu- ropas Front - Krieg in der Ukraine" erschienen.
Mit Gruppenübungen gewinnen die Kinder und Jugendlichen Vertrauen zueinander. Die Trauer steht ihnen oft ins Gesicht geschrieben.
Pokrowsk, die Heimatstadt von Kolya, versinkt in Trümmern. Russische Drohnen jagen alles, was sich in der Stadt bewegt.
Ausgabe 254 49