Page 71 - MOHR Stadtillu - Ausgabe 255
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TEXT UND FOTOS VON TILL MAYER
PROMO
dete 2011 in einem blutigen Krieg mit den unterschiedlichsten Kriegsparteien: Der Isla- mische Staat, die Demokratischen Kräfte Syri- ens im Osten und verschiedene Oppositions- gruppen unterschiedlicher Herkunft kämpf- ten um Macht und Vorherrschaft. Lange Zeit sah es so aus, als sei Diktator Assad dank sei- ner militärischen Unterstützung durch den Iran, die libanesische Hizbollah und Russ- lands nicht zu besiegen. Russland unterstütz- te das Regime mit massiven Luftangriffen. Städte und Dörfer verwandelten sich in Trüm- merwüsten. Bis heute sind die Ruinen und Felder mit Blindgängern verseucht.
Nach Einschätzung von Menschenrechtsor- ganisationen erfuhren oppositionelle Grup- pen wiederum Hilfe unter anderem aus den USA, der Türkei oder Saudi-Arabien. Dann kam 2024 eine schnelle und für viele uner- wartete Wende: Zwischen 27. November und 8. Dezember 2024 eroberten Rebellen des Bündnisses Hayat Tahrir al-Sham (HTS) weite Teile des von Assad-Truppen beherrschten Landes. Die HTS hatte in der Provinz Idlib zu- vor eine autonome Zone errichtet. Zusam- men mit der Oppositionsgruppe SNA stürzte sie das Regime. Assad floh am 8. Dezember 2024 nach Moskau. Eine militärische Koaliti- on unter der Führung der HTS bildete eine Übergangsregierung. Ende Januar 2025 wurde der HTS-Vorsitzende Ahmed Al-Scha- raa zum Übergangspräsidenten ernannt. Er kündigte eine dreijährige Übergangsphase mit einer Verfassungsreform an. Ein stabiler Frieden für ganz Syrien ist noch nicht einge- kehrt. Ethnische und religiöse Minderheiten, wie Christen, Drusen oder die Alawiten, kla- gen laut Informationen von Human Rights Watch über die Unterdrückung ihrer Rechte. Es kommt in Teilen Syriens immer wieder zu Gefechten.
In Idlib droht keine Gefahr durch Kämpfe, die Sicherheitslage ist stabil. Doch die Dichte an Landminen und Blindgängern gilt hier als besonders hoch. In den Regierungsbezirken von Idlib und Aleppo im Nordwesten des Landes liegen beispielsweise die meisten Landminen vergaben. Städte wie Aleppo er- lebten zudem schwere Luftangriffe. Seit 2011 wurden in Syrien etwa eine Million Mi- nen und explosive Kampfmittel, darunter auch ein hoher Anteil improvisierter Spreng- fallen, in Wohnhäusern und selbst Schulen eingesetzt. „Bis zu 30 Prozent dieser Kampf-
mittel sind nicht detoniert, das heißt, zwi- schen 100.000 und 300.000 nicht explodier- te explosive Kampfmittel liegen noch immer in Trümmern, auf Feldern, Zufahrtsstraßen und in Grundwasserleitern in ganz Syrien“, schreibt Handicap International auf seiner Page „Landmine.de“.
Die Folgen sieht Hesham Alhaj jeden Tag. Im Aqrabat Krankenhaus leitet er die Anferti- gung von Prothesen und die Betreuung der Patientinnen und Patienten. Letztere sind nicht selten Kinder, denen Explosionen Kör- perteile weggerissen haben. Auch Ahmed Kasom ist Patient. Ahmed hat eine Anreise von 40 Kilometern in wackeligen Bussen und Sammeltaxis zu bewältigen. „Ich hoffe, die Prothese gibt ihm eine Chance“, sagt Hes- ham Alhaj. 8000 Fälle betreut seine Einrich- tung im Jahr, sagt er. Hunderte brauchen eine Erstprothese, andere eine Reparatur. Vor den mannshohen Spiegeln üben Versehrte das Gleichgewicht. Oder versuchen, mit ihrer Prothese Gummibälle zu kicken.
„Die vielen Minen und Blindgänger werden leider dafür sorgen, dass wir weiterhin viel zu tun haben“, seufzt Alhaj. Viele Binnenvertrie- bene kehren seit Monaten an die Orte zu- rück, aus denen sie geflohen sind. Es ist nicht selten eine gefährliche Rückkehr. „Doch die Menschen wollen natürlich zurück in ihre Heimatorte. So viele Jahre konnten sie es nicht, war ihr Zuhause unerreichbar“, sagt ein Handicap-International-Mitarbeiter in At- meh.
Ein Blick aus seinem Büro fällt auf die Camps der Binnenvertriebenen. Doch viele sind be- reits fast völlig geleert. Atmeh liegt nahe der türkischen Grenze. An einem Hügel hinauf ziehen sich die Ruinen der Behelfsunterkünf- te. Vier Wände, während des Kriegs schnell hochgezimmert. Die Plane darüber haben die Bewohnerinnen und Bewohner bei ihrer Rückkehr mitgenommen. So ist schnell zu se- hen, kaum einer ist geblieben. Die Anhöhe wirkt wie mit leeren Bienenwaben überzo- gen. Mit dem Gros der Binnenvertriebenen zogen auch die Hilfsorganisationen ab. Die wenigen Menschen, die noch da sind, finden immer weniger Unterstützung. Sie sind zu- rückgeblieben in der Trostlosigkeit der aufge- lassenen Camps.
So wie Ibrahim, der auf einem Moped vorbei-
Ahmed Kasom hofft dank seiner Prothese wieder als Erntehelfer arbeiten zu können.
kommt. Er hat einen Katheder mit einem Urinbeutel unter seiner Jacke und dem Pull- over. „Die Ärzte sind weg“, sagt er. Nach Hau- se könne er nicht. „Von meinem Haus ist nichts übrig. Außer vielleicht Blindgänger in den Trümmern und auf meinen Feldern. Hier habe ich wenigstens einen Ort zum Schlafen. Also was tun?“, meint er traurig. Deswegen bleibt er. Vorerst.
Doch fast alle seiner ehemaligen Nachbarn sind zurückgekehrt. In Kleinstädte wie Sar- min, zum Beispiel. Der Krieg hat dort seine Spuren hinterlassen. In Häuserzeilen klaffen eingestürzte Gebäudeteile. Erzählen von den Einschlägen schwerer Bomben. Aber aus der örtlichen Zat Al-Nitaqain Schule dringt aufge- regtes Stimmengewirr. Ein Team von Handi- cap International gibt heute eine ungewöhn- liche Stunde. Sie klären über die Gefahren durch Blindgänger und Landminen auf. „Wo
können die den überall versteckt sein?“, fragt die Mitarbeiterin der Hilfsorganisation. Die Finger der Kinder schnellen nach oben. „Da, wo kaputte Häuser sind“, sagt ein Mädchen. „Im Garten“, ein anderes. „Auf den Feldern“, meint ein Junge. Dann lernen sie, wie eine Streubombe aussieht, eine Landmine, eine Panzerfaust-Granate ... Was zu tun ist, wenn sie eines der gefährlichen Dinger finden. „Ja nicht anfassen“, meint ein Bub mit Stupsna- se. "Richtig", hört das Kind. „Dann kommen wir von Handicap International, kennzeich- nen den Sprengkörper. Damit jeder weiß: Hier nicht hingehen. Bald darauf wird das Ding entschärft", erklärt die HI-Instruktorin.
Ahmed Kasom hat Angst um seine Kinder. Dass noch weitere Sprengsätze in der Nähe seines Dorfes vergraben sind. Sein amputier- tes Bein, hofft er, ist die beste Warnung für seine Söhne und Töchter, vorsichtig zu sein.
Überlebenswichtiger Unterricht: Mitarbeiter von Handicap International
besuchen Schulen, um die Kinder vor der Gefahr durch Landminen und Blindgänger zu warnen.
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