Page 62 - MOHR Stadtillu - Ausgabe 254
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 IM REICH DER GESTALTUNG, KUNST UND GEDULD
    DER FRÄNKISCHE BONSAIGARTEN
BONSAI: DIESES WORT RUFT BILDER VON FILIGRANEN JAPANISCHEN GÄRTEN UND ZEN- MÖNCHEN IN UNS HERVOR. VIELE HABEN DABEI AUCH DIE 1980-ER JAHRE VOR AUGEN, IN DENEN DIE ASIATISCHEN ZWERGENBÄUME DEUTSCHE WOHNZIMMER UND BÜROS EROBERTEN. WER HEUTE RALF JAUERNIG IN SEINEM BONSAIGARTEN BESUCHT, WIRD STAUNEN, WEIL ER DORT MINIATUREN HEIMISCHER GEHÖLZE VORFINDET.
dem Coburger Glühlampenhersteller Hel- lum, im Ausland eingesetzt. So kam Ralf 1966 in Istanbul zur Welt. Bis zur 6. Klasse lebte der heute 59-Jährige in Rödental, um danach bis zum 18. Lebensjahr in Ecuador aufzuwachsen. Wieder in Deutschland war er zunächst in kleinen Firmen beschäftigt, schätzte dort das Familiäre und die kurzen Entscheidungswege. Zuletzt lockte ihn ein großes Unternehmen mit tollen Positionen als Qualitätsplaner und Entwicklungsingeni- eur. Mehr konnte ihm diese Firma leider nicht geben. Zähe Abläufe, wenig Entschei- dungsgewalt und die Aufgabe, Mitarbeiter zu hochwertiger Leistung zu motivieren, zer- mürbten über 20 Jahre. Gut, dass Ralf eine tolle Freizeitbeschäftigung hatte, auf die er 2021 beruflich umsatteln konnte...
Ralf ist erfahrener Bonsaikünstler und er lacht, weil es vielen Gästen so geht. Immer wieder muss er erklären, dass Bonsai keine genetisch veränderte Zwergpflanze ist, son- dern ein ganz normaler Baum, den er durch gezielte Schnitte, Drahtung und Pflege in Form bringt. Bonsai kann jeder Baum wer- den. Unsere Weißdorn, Linden, Ahorn, Bu- chen, Kiefer, Fichte, Berberitze, Pfaffenhüt- chen, Zierapfel, Wacholder eignen sich her- vorragend dafür.
Kleine Kunstwerke
Der Gärtner wird dabei zum Künstler und "Bildhauer." Ralf entscheidet, welche Äste wachsen dürfen, welche entfernt werden, und wie die Form des Baumes seine innere "Geschichte" erzählen soll. Jede Narbe, jede verdrehte Wurzel und jeder abgeschnittene Ast ist ein Teil dieser Geschichte und jeder Bonsai ein Unikat. Er ist eine lebende Skulp- tur, die sich ständig verändert und weiterent- wickelt.
Man fühlt die Zeit, die in ihm steckt. Es ist fast so, als würde man einem stillen, weisen We- sen begegnen. So hat Ralf gelernt, in Rhyth- men der Natur zu denken, auf Veränderun- gen zu reagieren und im Moment zu leben. Der Stress des Alltags verflüchtigt sich, wäh- rend Ralf mit ruhiger Hand einen kleinen Ast schneidet oder einen neuen Draht anlegt.
Bewegtes Leben
Das war nicht immer so. Sein Vater, eigentlich ein hiesiger, war von seinem Arbeitgeber,
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- STADTILLU FÜR COBURG, LICHTENFELS & KRONACH























































































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